Wenn Resilienz zur Prävention wird: Eine kritische Zeitanalyse

In einer Zeit multipler Krisen wird Resilienz zunehmend als Allheilmittel propagiert. Doch hinter dem scheinbar harmlosen Begriff verbirgt sich eine folgenreiche Verschiebung: Prävention weicht der individuellen Anpassungsfähigkeit. Was auf den ersten Blick wie eine Stärkung des Menschen aussieht, entpuppt sich als systematische Umverteilung von Verantwortung. Eine Analyse des gefährlichen Trends, gesellschaftliche Probleme zu privatisieren.

ZENTRALE Überblick

  • Das EbM-Netzwerk kritisiert den ExpertInnenrat „Gesundheit und Resilienz“ für eine Stellungnahme zur Prävention, die wissenschaftliche Nachweise vermissen lässt und die Debatte verengt
  • Resilienz wird zunehmend als neoliberale Kampfvokabel eingesetzt, die strukturelle Probleme individualisiert und kollektive Verantwortung auf den Einzelnen abwälzt
  • Das Präventionsparadox zeigt: Erfolgreiche Vorbeugung wird unsichtbar, während Eigenverantwortung sichtbar belohnt wird

Der Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen

Das deutsche Gesundheitswesen erlebt einen subtilen, aber folgenreichen Wandel. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach betonte bei der Übergabe des Gutachtens „Resilienz im Gesundheitswesen“ 2023: „Das gibt uns Rückenwind für die geplanten schwierigen, aber dringend notwendigen Reformen.“

Doch was harmlos nach Krisenfestigkeit klingt, verdeckt eine grundsätzliche Neuausrichtung. Während traditionelle Prävention darauf abzielt, Krankheiten und Belastungen zu verhindern, fordert das Resilienzparadigma die Anpassung an unvermeidliche Widrigkeiten.

Der Sachverständigenrat Gesundheit definiert resiliente Systeme als solche, die „ihre Handlungs- und Funktionsfähigkeit bei exogenen Schocks bewahren“. Diese Definition verschiebt den Fokus von der Ursachenbekämpfung zur Schadensbegrenzung.

Wissenschaftliche Kritik an der Resilienz-Politik

Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (EbM) übt scharfe Kritik an der vierten Stellungnahme des ExpertInnenrats „Gesundheit und Resilienz“. Die Fokussierung auf Verhaltensprävention und medizinische Prävention untergrabe die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Politikberatung.

Professor Gabriele Meyer, ehemalige Vorsitzende des EbM-Netzwerks, zog sich bereits vor Verabschiedung der Empfehlungen aus dem ExpertInnenrat zurück. Der Dissens wird in der Stellungnahme jedoch nicht deutlich gemacht, kritisiert das EbM-Netzwerk.

Die Empfehlungen entbehren nicht nur der Evidenz, sie basieren auf keinem erkennbaren methodischen Verfahren und reflektieren nicht den präventionspolitischen Rahmen in Deutschland. Pauschale Aussagen über die Wirksamkeit von Präventionsmedizin werden getroffen, ohne konkrete Belege zu liefern.

Das Präventionsparadox als politisches Instrument

Das Präventionsparadox beschreibt ein grundlegendes Dilemma: Der Nutzen bevölkerungsbezogener Maßnahmen ist nicht äquivalent mit einem spürbaren präventiven Nutzen für einzelne Menschen. Erfolgreiche Prävention wird unsichtbar, gescheiterte Prävention wird sichtbar.

Diese Asymmetrie macht Präventionspolitik anfällig für politische Instrumentalisierung. Resilienztraining für Beschäftigte ist sichtbar und messbar, die Verhinderung von Burnout durch bessere Arbeitsbedingungen ist schwer quantifizierbar.

Der niederländische Finanzminister Wopke Hoekstra nutzte dieses Paradox während der Corona-Verhandlungen: „Wahre europäische Solidarität sei es, Länder wie Italien zu Strukturreformen zu bewegen, statt gemeinschaftliche Euro-Anleihen auszugeben.“ Ökonomische Resilienz wird zur Rechtfertigung für Sparpolitik.

Neoliberale Umcodierung der Verantwortung

Resilienz ist zu einem Schlüsselbegriff neoliberaler Politikformulierung avanciert. Der Begriff geht von einem selbstregulierenden System aus, das durch externe Erschütterungen aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Die Lösung liegt nicht in der Veränderung der Strukturen, sondern in der Anpassungsfähigkeit des Systems.

Felix Syrovatka zeigt in seiner Analyse zur europäischen Arbeitsmarktpolitik, wie Resilienz das Flexicurity-Konzept verdrängt. Statt sozialer Sicherheit bei beruflicher Flexibilität wird nur noch Anpassungsfähigkeit gefordert.

Diese Umcodierung hat konkrete Folgen: 25 Euro kostet ein Online-Resilienztest, 1.220 Euro ein Managementseminar für den „persönlichen Schutzschild gegen Stress und Burnout“. Die Privatisierung der Problemlösung wird zur lukrativen Geschäftsidee.

Die Grenzen individueller Bewältigung

Stefanie Graefe kritisiert in ihrer Analyse „Resilienz im Krisenkapitalismus“, dass das Konzept zu einem Alternativangebot zur Kritik geworden ist. Statt strukturelle Probleme anzugehen, wird die Kunst der Adaptation beworben.

Die EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe lobte das Resilienzkonzept, weil es sich auf „Bewältigungsmechanismen beziehe, die die Menschen selbst schaffen müssen“. Als Beispiel nannte sie Bewohner in Bangladesch, die von Hühner- auf Entenzüchtung umstellten, um Überflutungen zu begegnen.

Dass Enten schwimmen können, ist bekannt – aber ist das auch ein Trost für die Menschen? Diese zynische Logik zeigt die Grenzen des Resilienzparadigmas: Strukturelle Probleme werden zu individuellen Anpassungsleistungen umgedeutet.

Militarisierung der Psyche

Das „Comprehensive Soldier Fitness“ Programm der US-Armee will eine Million Soldaten fit machen. Resilienztraining soll sie psychisch nahezu unverwundbar machen. Die Militarisierung des Resilienzkonzepts zeigt dessen politische Dimension.

Mark Neocleous von der Brunel University warnt: „Die Sprache der Resilienz bereitet uns auf den Krieg vor.“ Das Gerede von der psychischen Widerstandskraft schaffe eine Kultur des Vorbereitetseins auf die Katastrophe.

In Deutschland werden Führungskräfte gecoacht, Soldaten resilient gemacht und Kinder sollen lernen, Mobbing auszuhalten. Die Logik ist immer dieselbe: Nicht die Verhältnisse ändern, sondern die Menschen anpassen.

Ökonomisierung der Krisenbewältigung

Der Resilienzmarkt boomt. 52,6 Prozent der Verwender von Nahrungsergänzungsmitteln greifen auf Vitamin-C-Produkte zurück – oft als Teil von Stress-Schutz-Formeln. Resilienzratgeber stehen auf Bestsellerlisten, Online-Kurse versprechen schnelle Ergebnisse.

Christina Berndts Buch „Resilienz. Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft“ stand zwei Jahre auf der Spiegel-Bestsellerliste und möchte „Hornhaut auf der Seele“ wachsen lassen. Die Kommerzialisierung der psychischen Widerstandskraft wird zum Geschäftsmodell.

Die Techniker Krankenkasse bewirbt Resilienztraining als Lösung für steigenden Krankenstand. Unternehmen buchen Workshops für erschöpfte Belegschaften, statt Arbeitsbelastungen zu reduzieren.

Fatalismus als Bewältigungsstrategie

Maja Beckers stellt die zentrale Implikation des Resilienzdenkens heraus: „Der resiliente Mensch hat erkannt, dass sein Einfluss auf die Welt begrenzt ist.“ Was zunächst einsichtig klingt, wird übertrieben propagiert.

Der resiliente Mensch hat nicht nur erkannt, dass sein Einfluss begrenzt ist – er hat auch die Überzeugung gewonnen, dass das Streben nach Veränderung nutzlos ist. Resilienz wird zur fatalistischen Einstellung: Die Welt erscheint als unveränderliches Schicksal.

Gesellschaftliche Veränderungen werden ersetzt durch eine Mentalität der Steigerung der eigenen Abwehrkräfte. Der zentrale Angriffspunkt verschiebt sich von der Wurzel des Problems zu den Leidtragenden.

Die Unsichtbarkeit erfolgreicher Prävention

Das Präventionsparadox macht erfolgreiche Vorbeugung unsichtbar. Wenn ein Lockdown verhindert, dass Intensivstationen überlastet werden, ist der Erfolg schwer messbar. Virologe Christian Drosten verwies darauf, dass gerade das Ausbleiben der Katastrophe den Erfolg bestätige.

Diese Logik ist nicht zu widerlegen, aber problematisch: Jede staatliche Überreaktion lässt sich als Erfolg verbuchen. Post hoc ergo propter hoc – diesem kausalen Zirkelschluss sollten wir nicht erliegen.

Strukturelle Prävention wie bessere Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit oder Umweltschutz ist schwer quantifizierbar. Individuelle Resilienz ist messbar, trainierbar und verkäuflich.

Systemische Alternativen zum Resilienzparadigma

Health in All Policies basiert auf der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung und verankert Verantwortung für Gesundheit in allen Politikbereichen. Dieser systemische Ansatz steht dem individualisierenden Resilienzparadigma gegenüber.

Verhältnisprävention zielt auf die Veränderung von Lebensbedingungen statt auf Verhaltensänderungen. Bessere Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit und gesunde Umwelten sind nachhaltiger als Resilienztraining.

Die Gewerkschaftsbewegung setzt auf kollektive Lösungen: Arbeitszeitverkürzung, Mitbestimmung und soziale Absicherung. Solidarität statt individueller Widerstandskraft.

Die politische Ökonomie der Resilienz

Resilienz passt perfekt zur neoliberalen Logik der Eigenverantwortung. Wer krank wird, hat nicht genug Selbstfürsorge betrieben. Wer arbeitslos wird, ist nicht flexibel genug. Wer unter Stress leidet, braucht Resilienztraining.

Die Sozialpolitik wird entlastet, wenn Menschen lernen, selbst zurechtzukommen. Steuersenkungen für Unternehmen werden kompensiert durch Eigenleistungen der Beschäftigten.

Thomas Gebauer von medico international warnt vor diesem „System sozialpolitischer Verantwortungslosigkeit, das sich zu seiner Rechtfertigung mehr und mehr des Resilienz-Konzepts bedient“.

Widerstand gegen die Resilienz-Hegemonie

Kritische Stimmen mehren sich in Wissenschaft und Praxis. Das EbM-Netzwerk fordert evidenzbasierte Politikberatung statt pauschaler Resilienz-Empfehlungen. Gewerkschaften setzen auf kollektive Interessenvertretung.

Alternative Konzepte wie Salutogenese oder Community Resilience betonen strukturelle Faktoren. Partizipative Ansätze stärken kollektive Handlungsfähigkeit statt individueller Anpassung.

Die Präventionsforschung zeigt: Nachhaltige Gesundheitsförderung braucht Verhältnisprävention. Bessere Lebensbedingungen sind effektiver als Verhaltenstraining.

Der Weg zurück zur strukturellen Prävention

  • Echte Prävention bedeutet: Arbeitsbedingungen verbessern statt Burnout-Training, Umwelt schützen statt Anpassung an den Klimawandel, soziale Sicherheit schaffen statt Resilienzcoaching.
  • Die Corona-Pandemie hat gezeigt: Strukturelle Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen waren erfolgreicher als appellative Eigenverantwortung. Kollektive Lösungen brauchen aber politischen Willen.
  • Präventionspolitik muss wieder an den Ursachen ansetzen statt an den Symptomen. Resilienz kann eine Ergänzung sein, darf aber nicht Prävention ersetzen.

Erlebt ihr auch, wie Resilienz zunehmend als Antwort auf strukturelle Probleme propagiert wird? Wo seht ihr die Grenzen individueller Bewältigung? Diskutiert mit der ZENTRALE Community über die Zukunft von Prävention und gesellschaftlicher Verantwortung!

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Team Gesundheit
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